Die Bedeutung der Heiligen in der orthodoxen Kirche

 

Für die Entscheidung, wer ein Heiliger ist, sind wir als orthodoxe Christen auf das, durch die Gnade des Heiligen Geistes getragene,  Entscheidungs- und Unterscheidungsvermögen der hl. Kirche angewiesen. Deshalb "spricht" die orthodoxe Kirche niemanden heilig, sondern sie anerkennt in der kirchlichen Kanonisation die vor Gott Angesicht bereits erwiesene Heiligkeit, die in der Theosis erlangte Christusförmigkeit des einzelnen Heiligen. Diese ehrt sie nun dadurch, daß der neue Heilige einen Feiertag mit gottesdienstlichen Texten bekommt. Die Kirche ist als der Leib Christi auch die Versammlung der Heiligen. Am Leben der Heiligen ist das Gnadenwirken Gottes besonders erkennbar. Durch die Wunder der Heiligen erweist Er uns sichtbar Seine ungeschaffene Gnade.

 

Die Verehrung der Heiligen

Das Christentum wird verschieden aufgefasst. Für die Einen ist es vor allen Dingen Moral, das ethische Gesetz; für die Anderen Philosophie oder Ideologie, die die so genannten „Probleme“ erklärt  und löst; für Dritte schließlich ist es eine Lebensweise, ein System von Bräuchen, Gewohnheiten und Gedenktagen, die das Leben verschönen und buchstäblich eine Lebenshilfe sein können. Natürlich schließt das Christentum all das ein. Aber es ist mehr, weiter und tiefer als all das.

 

Denn im Evangelium wird die christliche Lehre als Leben verkündet, als neue, das alte sündhafte Leben erneuernde Daseinskraft, als eine neue Realität. Und tatsächlich, für die Christen war der eigentliche Beweis für ihren Glauben sowohl für sich selbst wie für andere eben das konkrete Leben der Christen und nicht nur bloße Lehre oder Moral oder Gottesdienst.

 

Die Apostel haben nicht das Christentum, sondern Christus gepredigt, Sein Leben, Seine Leiden, Seinen Tod und Seinen Sieg über den Tod. Das bedeutet, ihre Predigt war Verkündigung einer konkreten, lebendigen Gestalt.

 

Es bedurfte Jahrhunderte, um die komplizierte, reiche christliche Lehre zu präzisieren, um diese Lehre in die nach Schönheit und Tiefe so erstaunlichen Formen des christlichen Gottesdienstes zu gießen und um schließlich die moralischen und sittlichen Grundsätze des Christentums im Einzelnen zu erarbeiten.

 

All dies jedoch hätte und hat keinen Sinn ohne Verwurzelung im Leben.Und daher hatten eine besondere, ja ausschließliche Bedeutung in der Christenheit die Heiligen, das heißt Menschen, die in sich, mit ihrem Leben den eigentlichen Inhalt des Christentums verkörperten. Und daher offenbart sich uns dieser Kern am besten, wenn wir zu diesen konkreten, lebendigen Menschen hinschauen.

 

Dies ist nützlich zumal jetzt, wo viele, selbst Gläubige oder religiöse Leute, abgeschnitten sind von der lebendigen Kenntnis der Heiligen. So seltsam es klingen mag, es geschah gerade wegen der Verehrung der Heiligen. Anstatt die Heiligen zu verstehen, ihre Erfahrungen nachzuempfinden und sich in sie hineinzuleben, begannen die Menschen einfach die Heiligen zu verehren, und so verwandelten sie sich gewissermaßen in abstrakter Verkörperung zu etwas Abstraktem, Übernatürlichem, Übermenschlichem, das uns, den einfachen Sterblichen, nicht zu Gebote steht.

 

Wir haben vergessen, dass Heilige in erster Linie Menschen wie wir sind. Das aber heißt, jeder von ihnen ist individuell, dem anderen nicht ähnlich, mit anderen Worten, jeder Heilige ist eine lebendige, einmalige Persönlichkeit und, was bei den Heiligen gerade besonders wichtig ist: Jeder geht seinen eigenen Weg in seinem Leben, unter den einmaligen und unwiederholbaren Bedingungen seines Lebens, damit er zur Heiligkeit gelangt, zu jener Verkörperung des Christentums in sich, das bis zur Stunde auch uns leuchtet.

 

Wir haben weiter die große Vielfalt der Heiligen vergessen, den Unterschied ihres Temperaments, ihre Berufe, Bildung, Interessen und Wege, welche sie genommen haben. Sie sind für uns Vollkommenheit ganz allgemein. Doch gerade jetzt und gerade wir müssen uns an Heilige wie an lebendige Menschen erinnern; weil in dem Kampf wider das Christentum, die Kirche und den Glauben bei uns, übrigens recht gekonnt, auf den abstrakten Charakter der Religion, auf den Nominalismus zurückgegriffen wird.

 

Das Christentum wird als Lehre bestritten, als Moral entlarvt, man verspottet uns als Kult. Ihr sagt, meint man, das eine, aber handelt anders, und folglich ist euer ganzer Glaube eine Lüge. Natürlich kann man endlos über solche Erklärungen streiten. Man kann und muss den Glauben als Wahrheit verteidigen, aber auch als Moral und Kult. Diese Apologie wird tatsächlich kaum überzeugen, wenn wir im Christentum nicht das Leben sehen, das heißt Wege, die Tausende und Abertausende gegangen sind, für die dieser Pfad zum Weg der vollkommenen Freude, des eigentlichen Lebenssinns, der Fülle des Lebens und der Menschlichkeit wurde.

 

Die Wahrheit des Christentums liegt in seiner Lebendigkeit, in der Fähigkeit Heilige hervorzubringen, und zwar in jedem Volk, in jeder Epoche und in jeder Kultur. Das Christentum hat wie alles auf der Erde Perioden des Aufschwungs und des Verfalls gehabt, Epochen großer und weniger großer Erfolge. Oft haben Christen, ja sogar zu oft, eben die Grundsätze verraten, die sie verkündigt haben. Und unter diesem Gesichtspunkt haben sie ihren Feinden nicht wenige Waffen geliefert.

 

Aber in dieser menschlichen, allzumenschlichen Geschichte ist stets das unverändert geblieben, worauf wir uns immer berufen müssen, was das Wesen des Christentums ausmacht. Das ist die Gestalt Christi. Und das ist daher die Gestalt für alle die, die nicht nur mit Worten, sondern in der Tat, mit ihrem ganzen Leben, Christus aufgenommen haben, Ihm nachfolgten in Dem das Christentum seine Berechtigung fand.

 

Zu oft haben wir Jahrhunderte hindurch in den Heiligen nur die Helfer, die Fürbitter und die Beschützer gesehen. Von ihnen wollte und erwartete man nur Wunder, nur die übernatürliche Hilfe. Ist es jetzt nicht an der Zeit, dass wir zurückfinden zu dem wahren Sinn der Heiligkeit im Christentum? Sein Sinn verkörpert sich am besten in dem Wort, mit dem die Christen ihre ersten heiligen Märtyrer benannten; es ist das Wort μάρτυς = „martys" auf Griechisch, zu Deutsch aber „Zeuge“.

 

Der Heilige ist vor allen Dingen ein Zeuge, das heißt ein Mensch, der durch seine Erfahrung Christus gesehen, erkannt und zu seinem Leben gemacht hat. Und daher braucht er als Zeuge keine Beweise und Erwägungen. Er sah, erkannte und akzeptierte als Augenzeuge, was für andere immer nur Lehre, nur Worte, nur Erwägungen sind. Wir begreifen, dass der Begriff Heiligkeit nichts anderes als Zeugentum meint.

 

Erzpriester Alexander Schmemann

 

 

Heilige und Heiligkeit im Verständnis der orthodoxen Kirche

 

Im privaten und kirchlichen Gebet ruft der orthodoxe Christ die Allheilige Gottesgebärerin, seinen hl. Schutzengel und die Heiligen um Hilfe an. Aber die Heiligen sind nicht ihrer eigenen Natur nach heilig, sondern durch ihre Verbindung mit Gott, vermöge deren sie an der Heiligkeit dessen der allein heilig ist, Teil nehmen. Sie helfen uns, aber nicht aus eigener Kraft, sondern mit der Kraft, welche die göttliche Gnade ihnen verleiht. Gott allein ist die Quelle alles Seins, der allein Gute und Gütige. Daher gebührt Gott allein die göttliche Anbetung (lateinisch adoratio, griechisch λατρεια) Den Engeln und Heiligen gebührt jedoch nur die Verehrung (griechisch δουλειά). (vgl. Erzpriester Alexeij Maltzew: Menologion I) Die Anrufung der Heiligen um ihre Fürbitte und ihren Beistand ist eine althergebrachte orthodoxe Sitte. Schon im Alten Testament ruft der heilige Prophet und König David aus: "Herr, Gott unserer Väter Abrahams und lsaaks und Jakobs". Durch die Erwähnung der gerechten Männer des Alten Bundes möchte der Psalmensänger sein Gebet unterstützen. Auch heute ruft die Orthodoxe Kirche "Christus, unseren wahren Gott, durch die Fürbitten Seiner Allreinen Mutter und aller Heiligen" an, sich der Gläubigen zu erbarmen und sie zu erretten. 

 

 

 

Die Lebensbeschreibungen der neutestamentlichen Heiligen setzen mit der "Apostelgeschichte" des heiligen Evangelisten Lukas ein, denn hier wird uns der Bericht vom Wirken und Leiden des ersten Blutzeugen für Christus, des heiligen Erzdiakons Stephanus, überliefert. Der heilige Stephanus war der erste von sieben Diakonen der Kirche in Jerusalem. Diese Diakone waren von den Aposteln durch Handauflegung geweiht worden, nachdem in der Kirche ein Konflikt zwischen den Mitgliedern mit griechischem Hintergrund und solchen mit traditionell jüdischem um die Frage der Versorgung von Witwen aufgetreten war. Die Diakone waren zu jener Zeit zugleich für die Glaubensverkündigung, wie auch für die sozialen Belange in der Kirche zuständig. (Apostelgeschichte 6, 1 - 7). Der heilige Stephanus war „ein Mann voll Gnade und Kraft und tat große Wunder und Zeichen unter dem Volke“ (Apostelgeschichte 6, 8). Durch eine seiner Predigten geriet der heilige Stephanus mit den hellenistischen, griechischsprachigen Juden in Jerusalem in Konflikt. Sie brachten ihn unter dem Vorwurf der Reden wider den jüdischen Tempel und das mosaische Zermonialgesetz mit falschen Zeugen vor den Hohen Rat (Apostelgeschichte 6, 9 - 15). Er durfte seine Verteidigungsrede, in der er seinen christlichen Glauben bekannte und den Vorwurf des Prophetenmordes und der Nichtbeachtung der durch Mose überlieferten Gebote erhob, nicht zu Ende führen. Die Richter sahen sein Antlitz wie das eines Engels strahlen, hielten sich aber die Ohren zu wegen seiner flammenden Verteidigungsrede, mit der er sein Bekenntnis zu Christus ablegte. Die in Apostelgeschichte 7, 2 - 53 wiedergegebene, eindrucksvolle Rede belegt, dass der heilige Stephanus schon vor den Missionsreisen des heiligen Apostels Paulus den universalen Anspruch des Glaubens an Christus verkündete. Dem heiligen Stephanus wurde am Ende seiner Rede eine Vision zuteil, in der er den Herrn Jesus Christus zur Rechten Gottes erblickte. Als er den Richtern dieses verkündete, wurde er von der aufgebrachten Menge als Gotteslästerer vor dem Damaskus-Tor gesteinigt.

 

Er sah den Himmel offen, kniete im Gebet nieder, vergab seinen Peinigern und übergab seine Seele in die Hände Gottes. (Apostelgeschichte 7, 54 - 60). Saulus von Tarsus, der spätere heilige Apostel Paulus, stimmte nach eigenem Bekunden der Hinrichtung zu und bewachte die Kleider der Zeugen, die gegen Stephanus ausgesagt hatten (Apostelgeschichte 22, 20). Die Steinigung des heiligen Stephanus war der Auftakt zu einer großen Christenverfolgung in Jerusalem (Apostelgeschichte 8, 1 - 3). Vom heiligen Nikodemus und dem jüdischen Gelehrten Gamaliel wurde der heilige Protomartyrer Stephanus dann auf dem Acker des Gamaliel in der Nähe des Garten Getsemani begraben. Dort befindet sich heute ein griechisches Kloster.

 

Auch in den folgenden Zeiten wurden die Berichte vom Leben und Wirken der Martyrer Christi durch Augenzeugen aufgezeichnet. Solche Aufzeichnungen bilden dann später ganze Bücher, die heute als Martyriologien bezeichnet werden. So ist die Ausbreitung der heiligen Kirche immer durch die vielfältigen Taten der Heiligen in Fasten, in Beten, in Werken der Barmherzigkeit, der Geduld, der Sanftmut, der Nächtenliebe und der unermüdlichen Predigt des Wortes Gottes als dem Weg zur Errettung, begleitet worden. Denn in der orthodoxen Verehrung der Heiligen spielt die "Widmung" des Menschen nach Gen 1,26 ff. – Abbild (griechisch εικόνα) und Ähnlichkeit Gottes (erschaffen nach Gottes Bild und Gleichnis) zu sein, eine wichtige Rolle. Das Ziel des aus dem Glauben kommenden Lebens ist es gerade, in Gemeinschaft mit dem Schöpfer zu leben. Heilige sind deshalb nach Ansicht der Orthodoxen Kirche zunächst einmal Menschen, die diesen Weg der Nachfolge in besonders vorbildhafter Weise beschritten haben. Dabei ergeht aufgrund des durch Jesus Christus vollzogenen, allumfassenden Erlösungsmysteriums die Berufung zur Heiligkeit grundsätzlich an alle orthodoxen Christen als lebendigen Gliedern am Leib Christi (d. h. in der heiligen Kirche). So geht es im orthodoxen Verständnis der Heiligkeit am Ende eben nicht um eine bloße Verehrung einer "heilige Elite", sondern alle orthodoxen Christen sind in ihrer persönlichen Christusnachfolge dazu aufgerufen, sich durch das Wirken der göttlichen Gnade mehr und mehr in das Bild Christi verwandeln zu lassen. Bei den heiligen Vätern wird dieser Vorgang der permanenten Heiligung „Theosis“ Θεωσις genannt, das bedeutet „Vergöttlichung“ oder „göttlich Machung“. Der Begriff meint im Verständnis der Orthodoxen Kirche den Errettungsprozess des Gläubigen von der Unheiligkeit zur gnadenhaften Teilnahme an den Wirkkräften (ἐνέργεια) Gottes. Denn das heilige Leben in Gott beginnt und wächst mit Anstrengungen eines orthodoxen Glaubensleben in dieser Welt und findet am Ende dann seine Erfüllung in der beseligenden Schau Gottes, in der die Macht von Sünden und Tod endgültig überwunden sein werden. Die Welt der Heiligen, das ist die Welt jener Menschen, die in ihrem Leben die Gebote des Evangeliums gleichsam „verkörpert“ haben und die deshalb schon nicht mehr dem Fleische, sondern dem Geiste nach gelebt haben. Denn dort, wo der Geist lebt, stirbt das Fleisch; wo der Geist frei ist, dort wird das Fleisch gekreuzigt, und es gibt für die Sünde keinen Platz mehr, dort wo Christus ist. Aus diesem Grunde liegt auch im Lesen der Heiligenviten und das Nachdenken über sie für unsere Seelen ein großer Nutzen. An ihnen haben wir lebendige Beispiele des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu Gott und unseren Nächsten.

 

Jeder orthodoxe Christ hat in der heiligen Taufe seinen Vornamen von einem orthodoxen Heiligen empfangen. Dieser Namensheilige bestimmt den persönlichen Festkalender des orthodoxen Christen, denn weithin wird im christlichen Osten nicht der Geburts-, sondern der Namenstag begangen. Das ist der Gedenktag des Heiligen, dessen Namen der einzelne Christ als Vornamen trägt. Diesen Tag begehen gläubige orthodoxe Christen nach Möglichkeit mit dem Besuch des Gottesdienstes zu Ehren des Tagesheiligen. Anschließend wird der Namenstag dann im Kreise der Familie, der Taufpaten, Verwandten und Freunde festlich und zumeist auch fröhlich begangen.

Priester Thomas Zmija

 

Wunderbar ist Gott in Seinen Heiligen

 

Ein rechtschaffenes Leben, erfüllt von Gottes- und Nächstenliebe, ist die Vorausssetzung, dass einen orthodoxen Christen zu einem Heiligen, also einem Freund und Vertrauten Gottes werden kann. Dies geschieht durch die Vergöttlichung, indem der Heilige durch das Zusammenwirken mit der göttlichen Gnade, Schritt für Schritt Christus immer ähnlicher wird. Der Heilige wird zu einer irdischen Ikone Christi. Dies ist das Lebensziel eines jeden gläubigen orthodoxen Christen und deshalb wird der Heilige so zum Vorbild und Fürsprecher für uns.

 

Die orthodoxe Kirche spricht im Übrigen niemanden "Heilig", sondern sie erkennt nur die besondere Nähe Gottes zu einem bestimmten Menschen und fügt diesen besonders gottverbundenen Menschen dem Gedenken der Schaar der übrigen Heiligen Gottes bei. Diese besondere Verbundenheit mit Gott zeigt sich daran, dass dieser Mensch in besonderer enger Verbindung mit dem geistlichen Leben der orthodoxen Kirche gestanden, Gott besonders treu gedient, durch die Gnade Gottes Wunder gewirkt hat oder als Märtyrer für Christus sein Leben hingegeben hat.

 

Durch ein auf Gott und seine Gebote ausgerichtetes Leben hat sich der Heilige mehr und mehr (durch das Gnadenwirken Gottes) von seinen Leidenschaften befreien  und dadurch hat der Heilige sich zugleich mehr und mehr von der Macht zur Sünde loslösen können. Dieser Prozess findet in einem Zusammenwirken (Synergeia) mit der alles bewirkenden Gnade Gottes statt. Der Heilige ist also kein Superheld, sondern ein sündiger Mensch wie Du und ich. Aber der Heilige ist ein Mensch, der die Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen, ja zu allen Geschöpfen Gottes, über alles andere in seinem Leben gestellt hat. Und diese Liebe ist im Zusammenwirken mit der alles entscheidenden göttlichen Gnade der Motor unserer Verwandlung hin zu jenem paradiesbewohnenden Menschen, den Gott bei Seiner Schöpfungsakt gewollt und beabsichtigt hat. So ist der Heilige ein Mensch, der Schritt für Schritt Anteil an Christi vergöttlichten menschlichen Natur gewonnen hat. Dabei bleibt aber ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Urbild Christus und seiner menschlichen Ikone dem Heiligen: Die menschliche Natur, die Christi angenommen und mit Seiner göttlichen Naturt vereint hat, ist ohne Sünde, aber der Heilige ist und bleibt ein sündiger Mensch, der sich aber durch die Askese mehr und mehr der verwandelnden göttlichen Gnade öffnet. Auch kann sich der Heilige nicht selbst erlösen, aber er kann - wie wir alle - ein vollkommenes "Ja" zur Erlösung durch Christus sprechen. Dieses "Ja" ist der orthodoxe Glaube und die Liebe zu Gott und unserem Nächsten, die uns dann aus freien Willen die durch unseren Herrn und Erlöser und Gott gebrachte Erlösung annnehmen und in uns wirksam werden lässt.

 

Priester Thomas Zmija

 

Wunderbar ist Gott in Seinen Heiligen in aller Welt- Gedanken zur "Synaxis aller Heiligen, die in den deutschen Landen aufgestrahlt sind"

 

Als nach der russischen Oktoberrevolution die Verfolgung der Christen durch die gottlosen Bolschewiki einsetzte, verließen viele orthodoxe Gläubige Russland und fanden dann in Frankreich eine neue Heimat. Zu dieser Zeit erschien die hl. Genoveva (Geneviève) im Traum einer gläubigen russischen Emigrantin. Sie offenbarte der Frau, dass auch die orthodoxen Gläubigen zu ihrem Grabe kommen und sie um Fürsprache bei Gott bitten sollten. Diese westliche Heilige, die im 5. Jahrhundert, also noch zur Zeit der ungeteilten Kirche gelebt hatte, versprach den aus dem Osten kommenden Gläubigen Fürsorge und Fürsprache bei Gott.

 

 

Die heilige Geneviève ist die Heilige, die besonders die Stadt Paris und ihre Bewohner beschützt. Sie rettete im Jahr 451 die Stadt vor dem Einfall der Hunnen. Als sie etwa 20 Jahre alt war; verstarben ihrer Eltern. Darauf weihte sie ihr Leben Gott und lebte in vollkommener Askese. Sie verbrachte ihr Leben in Einsamkeit, fastete sehr streng, betete ganze Nächte hindurch, ganz besonders streng in der Zeit zwischen Epiphanie und der Großen und Heiligen Woche (Karwoche).

 

Als die Hunnen im 5. Jahrhundert unter der Führung ihres Khans Attila in Frankreich einfielen und bald auch die Stadt Paris mit Zerstörung und Tod bedrohten, wurde die Stadt durch die Gebete dieser Heiligen gerettet. Kurz vor Paris änderten die Hunnen ihre Marschroute und Paris wurde mit Gottes Hilfe verschont. Die hl. Geneviève erlangte von Gott die Gabe der Tränen. Ihre besondere Tugend war das tiefe Mitleiden, die innige Reue und umfassende Liebe zu allen Menschen.

 

Während drohender feindlicher Angriffe, in Zeiten von Epidemien und anderer herannahender Katastrophen wurden ihre Reliquien in den kommenden Jahrhunderten durch die Straßen der Stadt getragen und in den Kirchen wurde im Gebet ihre Fürsprache bei Gott gefleht. Während der französischen Revolution wurden ihre heiligen Gebeine im Rahmen des „Kampfes gegen die religiösen Vorurteile“ auf dem traditionellen Hinrichtungsplatz, dem „Place de Grève“, verbrannt. Die wie durch ein Wunder erhalten gebliebenen Teile der Reliquien und der Reliquienschrein werden heute in der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont aufbewahrt.

 

In dieser westlichen Heiligen erkannten nun die russischen Emigranten die gleiche Frömmigkeits- und Geisteshaltung wieder, wie bei den Heiligen, Gerechten und Frommen, die im Laufe der Jahrhunderte in den russischen Landen aufgestrahlt waren. So erkannten sie, dass die Heilige Orthodoxe Kirche nicht nur im Osten, sondern schon seit Jahrhunderten auch im Westen, vor allem in den Heiligen, die hier gelebt hatten, zu finden war.

 

 

Damit wir in den westlichen Heiligen die apostolische Fülle der Kirche, ihre wahrhafte Katholizität, erkennen können, müssen unsere russisch, griechisch, rumänisch oder serbisch geprägten geistigen und geistlichen Augen jedoch hinter die Fassade des kulturell Gewohnten zu blicken lernen. Wenn sich unsere inneren Augen sich nicht von der Oberfläche abendländischer Erscheinungsformen in Gottesdienst, Frömmigkeit und Geistesleben irritieren lassen, sondern in die Tiefe des christlichen Glaubens, der immer ein ganz kirchlicher und damit zutiefst orthodoxer ist, zu blicken gewöhnen, werden wir hinter äußeren Unterschieden zwischen unserer byzantinischen und der abendländisch-lateinischen Tradition in Liturgie und Frömmigkeit die Eine Heilige Orthodoxe Kirche entdecken.

 

 

Dieser Blick auf das gemeinsame orthodoxe Erbe ist durch die Jahrhunderte des Schismas getrübt worden. Die bitteren Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte, die Kreuzzüge, die Eroberung und Plünderung von Konstantinopel, der Uniatismus und der westlichen Proselytismus haben das Misstrauen und die Verbitterung bei vielen Orthodoxen so sehr wachsen lassen, dass der Blick auf das Verbindende weithin verstellt wurde. Aber auch nachdem sich das römische Patriarchat von der einen Kirche Christi abgespalten hatte ist die Orthodoxe Kirche nicht östlich gegen westlich, nicht byzantinisch gegen römisch, nicht orientalisch gegen lateinisch geworden. Als von Christus gestiftete Arche des Heils ist sie stets das genuine Leben in Christus geblieben, zu dem alle Christen an allen Orten und zu allen Zeiten durch Christus Selbst berufen sind. Dies wird in besonders schöner Weise an den Heiligen, die in den Ländern des Osten und Westen seit alters her aufgestrahlt sind und uns den gemeinsamen orthodoxen Glauben in der Vielfalt der einzelnen menschlichen Lebenswege und der kirchlich geprägten Kulturen der einzelnen Völker deutlich.

 

 

Diese Verehrung der Heiligen, die in den Ländern des Westens gelebt haben, verwurzelt die heutige orthodoxe Diaspora in den Ländern ihrer neuen Heimat. Gleichzeitig vermag sie die Frommen in der orthodoxen und der katholischen Kirche schon heute in der Verehrung der gemeinsamen Heiligen zusammenzuführen und weit mehr als alle ökumenischen Papiere der akademischen Fachleute zur Wiedererlangung der kirchlichen Einheit beizutragen. Eine Einheit, die wir - bei aller Wichtigkeit des Gespräches und theologischen Verstehenlernens - weder herbeireden, sondern nur aus der Fülle des Wirkens des Heiligen Geistes wieder empfangen können: Eine Fülle, die uns Gott allein auf die Fürsprache aller Seiner Heiligen wieder schenken kann!

 

 

Aus der Heiligen Schrift wissen wir, dass nicht nur die einzelnen Menschen ihren persönlichen Schutzengel haben, sondern dass auch die Völker durch  bestimmte,  zu ihrem Beistand und Schutz gesandte Engel begleitet und behütet werden. In ähnlicher Weise verhält es sich auch mit den Heiligen, die jeweils in einen bestimmten ethnischen und lokalen Kontext ihren Weg mit und zu Christus hin gegangen sind.

 

Das bedeutet natürlich nicht, daß die Heiligen auf einen nationalen Kontext begrenzbar sind, wie es chauvinistisch Verblendete gemeinhin meinen; wohl aber, daß es auch eine besondere bleibende geistliche Verbindung zwischen Ihnen und der Kirche und den Gläubigen in den Ländern, in denen sie gelebt haben, gibt. Ihre Fürbitte für uns und ihre Verehrung durch uns sind deshalb wichtig für die Entfaltung des geistlichen Lebens der jeweiligen orthodoxen Lokalkirchen, sowohl für die Ortskirche in Griechenland und Russland, als auch für die sich bereits seit fast 300 Jahren sich entwickelnde orthodoxe Kirche in Deutschland.

 

Priester Thomas Zmija